Aktuelle Texte:
Signor A.
Ein Schicksal
Esther Dewes
Signor A. schloss die
Eingangstür seines Ladens auf. Seit Jahrzehnten verkaufte er hier direkt
am Ortasee kunsthandwerkliche Gegenstände vorwiegend an Touristen. Man
konnte beim Stöbern Dinge finden, die das Herz berührten und die Sinne
betörten, Kleinigkeiten entdecken, die in dem Besucher des Ladens das
Begehren weckten, sie besitzen zu wollen. Es war erst 15 Uhr und schon
wollte eine Touristin seinen Laden betreten. Dabei hatte er es sich
gerade nebenan im Cafe von Giuseppe gemütlich gemacht und sich einen
Espresso bestellt. Früher wäre das alles nicht möglich gewesen, damals
hatte man die Mittagsruhe noch eingehalten, bis mindestens 16 Uhr. Alle
hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen, auch die Touristen. Bis die
brütende Hitze sich zu legen begann. Dann hatte er Tag für Tag, sieben
Tage in der Woche, seinen guten Anzug angezogen, war in seine schwarzen
Lederschuhe geschlüpft, die er Abend für Abend wienerte, bis sich sein
Gesicht drin spiegelte, hatte mit Pomade sein Haar geglättet und seinen
schmalen Schnurrbart gebürstet.
„Signor, Signora, Signorina“, er begrüßte jeden mit einer angedeuteten
Verbeugung. Am liebsten waren ihm die Signorinas gewesen in ihren
bunten, zarten Kleidern und Strohhüten auf den zierlichen Köpfen, die
wie lebhafte Vögel in seinem kleinen Laden umherschwirrten und
zwitscherten, auf der Suche nach einem Andenken an ihren Urlaubsort.
Ihre Stimmen schwebten in seinem hohen Laden empor, verfingen sich in
der Decke und versteckten sich zwischen der Auslage, den weißblauen
Keramikbechern, den winzigen Flakons aus Muranoglas, den Halsketten mit
geschliffenen Bergkristallen. Wenn er später abends den Laden säuberte,
mit Hilfe einer Leiter weit hinaufstieg, um auch die letzte Spinnwebe
mit dem Wedel zu entfernen, scheuchte er den Rest eines hellen Lachens,
ein kleines Gemurmel, ein winziges Zwitschern aus den Ritzen des
Gemäuers, lauschte ihm nach, bis es schließlich verklungen war und
lächelte versunken, den so vergänglichen Augenblicken des Tages
nachspürend. An manchen Abenden stand eine der Signorinas des Tages wie
zufällig unter den Arkaden aus Granit und schaute wehmütig und
sehnsuchtsvoll zu ihm herüber. Dann öffnete er wortlos wieder die Tür
und ließ sie herein, nahm sie mit in den hinteren Raum, erfüllte sie mit
seiner Glut und ließ sie Zeit und Raum vergessen.
Versunken in Gedanken an Vergangenes stand er an seinem Ladentisch,
geschrumpft wie die Auslage seines Ladens, sich der fleckigen Hose nicht
bewusst, über die er schon gestern roten Wein verschüttet hatte, schob
ein zwei Papiere raschelnd hin und her, Geschäftigkeit vortäuschend,
während die Signora durch seinen Laden schlenderte. Es gab nur noch
wenig zu sehen. Zwei Regale, die aus den granitnen Wänden herausgehauen
waren, mit spärlich Keramik , wenige Gefäße aus Muranoglas, die nicht
mehr in der Sonne strahlten wie früher, da sich eine Schicht grauen
Staubes darübergelegt hatte wie ein dünner Schleier, und neuerdings
bunte Ketten aus China. Oben in der Ecke hatte sich eine Spinne
eingerichtet, aber das fiel ihm nicht auf, für eine Brille fehlte ihm
schon lange das Geld.
Die Gedanken an vergangene Zeiten, an das verlorene scheinbare Glück
hatten sein Herz schmerzlich berührt. Es zog sich krampfartig zusammen,
so dass ihm schwindelig wurde. Gleich wenn die Kundin gegangen war,
wollte er sich bei Giuseppe einen neuen Espresso bestellen. Zuvor musste
er sich aber auf dem Stuhl hinter dem Ladentisch etwas ausruhen. Er
schloss die Augen.
Fußball-EM 2016 in
Frankreich Rolf Müller
Ein Mensch der wollte, wie immer seit Jahren,
zu der Fußball-Nationalmannschaft fahren,
die Evians-les-bains als Standort gebucht hat,
weshalb sie der Mensch in Frankreich besucht hat.
Doch kaum hat die Grenze er überschritten
da hat er wirklich schon sehr stark gelitten.
Im Bauch hat's gerumpelt, der Kopf tat ihm weh,
es schmerzten die Beine hinab bis zum Zeh.
Der Blick war getrübt, er hat nichts mehr gehört,
er torkelt nur noch, Gleichgewicht war gestört.
Nun konnt' er die Spiele nicht mehr besuchen
und fing deshalb schrecklich laut an zu fluchen.
Der Mensch wollt' nicht mehr in Frankreich verweilen
und musste zurück schnell nach Deutschland eilen.
Dort ist er dann voller Ängste und Bangen
direkt schnell zu seinem Doktor gegangen.
Der Doktor, den er nun schon sehr lange kennt,
und der ihn daher auch mit Vornamen nennt,
hat ihn ganz untersucht und meint: „Lieber Franz,
du hast eine Franzose-Intoleranz.“
Der Hobbykünstler Rolf Müller
Ein Mensch, der
künstlerisch begabt,
in seinen Hobbykeller trabt
um dort, in vielen langen Stunden
einst Eckiges schön abzurunden.
Das Runde er nun präsentiet
vor seinem Haus, was dieses ziert.
Das Werk sieht aus wie richtig teuer
er ist zufrieden, ungeheuer.
Der Mensch freut sich zwei Tage dran,
da kommt der nächste Nachbar an,
der schaut kurz hin, fängt zu lästern,
das Runde störe schon seit gestern.
Des Menschen Frau tritt vor das Haus
sie zieht zuerst die Stirne kraus,
dann lächelt sie und meint ganz neckig
viel schöner sei das Kunstwerk eckig.
Der Hobbymensch setzt sich in Trab
montiert sein rundes Machwerk ab,
rennt in den Keller auf der Stell'
und hobelt eckig es ganz schnell.
Die "Drabble-Mania" hat auch uns erfasst...
Deshalb hier ein paar Drabbles* aus unserer Produktion.
* Drabble:
Ein Drabble ist
eine meist pointierte Geschichte, die aus exakt 100 Wörtern bestehen
muss. Dabei wird die Überschrift nicht mitgezählt.
Drabbeleien
ZU
Flucht
Konsequenz
Fluchtversuch
Lebenslänglich
Grausam (Mundart)
De Johresausfluch vom Keschelclub
(Mundart)
Im
Falle eines Falles
Der Geiger
(Mundart)
Hoffnungsschimmer
Frühlingsgruß
Verdammte Ungewissheit
Drabbeleien
Rolf Müller
Mit hundert Worten schöne Geschichten,
ein Drabble, zu schreiben ist nicht so schwer.
Jetzt versuche ich mal eins zu dichten,
was dann ein gereimtes Drabble wohl wär.
Einen Namen für das gereimte Drabble,
den gibt es nicht, darum suche ich ihn.
Da fällt mir ein: Wie wär's mit Gerabble?
Das Wort gefällt mir, drum schreib ich es hin.
Hurra! Jetzt stehen schon achtundfünfzig
von hundert geforderten Worten hier.
Auch wenn dies Gedichtchen unvernünftig
sein sollte, es fehlen noch Zeilen, vier.
Das hat doch keinen Sinn,
denn die geh'n nicht mehr hin.
So ein gereimtes Gebabbel
hier ist doch kein Drabble.
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ZU
Esther Dewes
Er rüttelte an der
Tür; sie öffnete sich nicht.
Supermann als Türsteher, verdingt als Schlüsselfigur im Panoptikum der
verwirrten Geister.
Gestern war heute und heute war gestern.
Die Tage verschmolzen miteinander ununterscheidbar; Sekunden, Minuten,
Stunden flossen dahin wie eins.
Die Zeit raste schneller als die Wirklichkeit.
Baumwollfeld im Kopf. Dicke, weiße Baumwollbüschel umschlossen fest sein
Denken und formten es zu einem ganzen Nichts, in dem sich seine Gedanken
verloren versteckten, um keinen Weg zurück zu finden.
Fremdbestimmtes Dahinvegetieren durch angebliche Sorge angeordnet.
Geraubte Freiheit und Körperverletzung in weißer Verkleidung.
Mitleidlos verachtendes Beobachten der Beobachter.
Immer schön mit dem Strom schwimmen.
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Flucht
Gertrud Kessler
Die Ähnlichkeit war ideal, und er war ohne Begleitung. Heute musste es
passieren, morgen in Portovecchio brauchte er die Papiere. Bis jetzt war
alles einfach gewesen, in Limassol hatte er sich mit einer Salatkiste in
die Lieferantenschlange eingereiht und war so auf das Schiff gelangt.
Wie gestern sah er ihn in der Dunkelheit an der Reling stehen. Er
schlang das Seil um seinen Hals, fast geräuschlos stürzte er zu Boden.
Ihn über die Teakholzleiste des Geländers zu schieben war schwieriger.
Im Pulk verließ er am nächsten Morgen das Schiff. „Einen schönen
Aufenthalt Herr Morione!“ Fast hätte er nicht zurückgenickt.
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Konsequenz
Annemarie Rech
Die Grenze des Erträglichen war für Gregor erreicht. Kreidebleich war er
geworden, weiß wie die sechs Leinwände, auf die er seine neuesten Werke
gemalt hatte, die nun mit weißer Farbe überstrichen in seinem Atelier
zum Trocknen standen. Er wusste, dass für diesen Frevel nur seine Frau
Adelheid in Frage kam. An allem hatte sie etwas auszusetzen. An seinen
unverkäuflichen, modernen Bildern, die ihm sehr gut gefielen, seiner
Kleidung, seiner Frisur, seiner Schweigsamkeit, einfach an allem.
Der Arzt konnte am nächsten Morgen nur noch den Tod Adelheids
feststellen.
Gregor hatte keine Bedenken. Niemand
würde die winzige Einstichstelle in ihren Hämorriden finden.
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Fluchtversuch
Mariette Willnat
Tom Tracy durchquert mit großen Sprüngen den in gleißendes
Licht getauchten Raum, hastet dem Ausgang zu, bleibt jedoch wie
angewurzelt stehen, als er vermeint, ein undefinierbares Geräusch zu
hören.
Er weiß, dass seine geheime Mission aufgeflogen ist, dass man seine
Depeschen abgefangen hat. Er hat den Gegner unterschätzt.
Wenn er nicht rechtzeitig das Flachdach des Gebäudekomplexes erreicht,
wo der Helikopter startbereit auf ihn wartet, ist er verloren.
Die Angst treibt ihn weiter. Er rennt
um sein Leben, doch ehe er den Knall der Explosion mit seinen Sinnen
wahrnehmen kann, umfängt ihn abgrundtiefe Dunkelheit, aus der er nie
mehr auftauchen wird.
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Lebenslänglich
Rolf Müller
Der Schwan ist heute besser gelaunt, hat nicht, wie so oft, die Flügel
gespreizt. Er liegt ruhig auf dem Wasser. Auch die Enten liegen einfach
so da. Der Schwan lässt sie in Ruhe. Sonst jagt er sie immer auf die
andere Seite des Weihers. Schließlich ist er ein alter Hagestolz. Seine
Partnerin haben die Besucher vor Jahren tot gefüttert. Sie ist an einen
trockenen Stück Brot erstickt. Der Heimatverein, der den Weiher betreut,
hat ihm schon mehrfach eine neue Schwänin angeboten. Er hat die neuen
Frauen aber immer weggejagt. Ob er das auch getan hätte, wenn er ein
Menschenmann wäre?
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Grausam
Willi Träm
Schreid däär klaaen Max:
„Eich well nedd emmer emm Kraaeas eromm laafe.“
Saad sei Modder:
„Hall
die Klapp, sonschd nachelle eich dir de annere Fuß aach noch aan.“
Doo droff sei Brurer:
„Eich well nedd nooh Amerika. Was soll eich enn Amerika?”
Doodroff werrer die Mamme:
„Pedds dei Maul dsu onn schwemm weirer.“
Am nägschde Daach seddse die Brierer am Fenschder onn gugge dääm Oba
dsu, wierer emm Garde Bockschbreng machd.
„Mamme, foor was machd dann de Oba hinnerm Haus Schbreng wie e junger
Geißebogg?“
„Oo lossene noore hubbse, duuhn ihr dsweij noore ruhich weirer iewe medd
eirem Karabiner.“
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De Johresausfluch vom
Keschelclub
Karin Jakob
Schon em Bus hann die Keschelbrieder ihre Dorscht med Bitburjer
geleschd. Die Kneibetour dorsch Rüdesheim wor schwer anschdrengend
gewaen, well se hann misse die ville Schobbe schdemme.
De Kuni wor donoh so mied, dassa sisch en da Fußgängerdsone off e Bang´g
gehuggd had. Dodebei essa engeschloof. Sei Schdroh´hudd had vooredrahn
em Dregg gelae. Voore offem T-Schirt hodda schdehn: „Kriegsversehrter“.
1956 wora en Saarbrigge meddem Bagger off e Blendgänger gefah un hodd
sei Baen verlor. Jedsde worem ed Boggsebaen hochgerudschd un had die
Prothees freigeleed.
Wie de Kuni wach genn ess, wor sei Hudd voll Klaengeld, alles en allem
sechdsisch Mark.
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Im Falle eines Falles Karin Jakob
Eleonore sprach
ununterbrochen ohne Punkt und Komma. Nichts als Vorwürfe und
Gemeinheiten.
Paul kannte sie lange genug.
Sie würde nicht aufhören, bis er klein beigab.
Das schrille, unfrohe Lachen und die vulgären Anwürfe waren
unerträglich. Keine Chance zu einer Rechtfertigung! Und das in seiner
eigenen Wohnung.
Während sie weiter keifte, ließ sie seinen Wohnungsschlüssel wie eine
Trophäe zwischen Daumen und Zeigefinger pendeln. Er nahm die kleine Tube
vom Tisch, schraubte sie auf und drückte blitzschnell den Inhalt auf
Eleonores Lippen.
Eine Schrecksekunde, dann Schweigen.
Paul hob den Schlüssel vom Boden auf. Die leere Tube Uhu-Sekundenkleber
warf er in den Mülleimer.
zurück
Der Geiger Karin Jakob
A had voorem PK
geschdann. Der Mann med da Gei, de Hudd naewe sisch. Die Gei had vor
Schmerdse gewinseld, gejault un gequiedschd, wiea meddem Booé iwwer die
Saide geschdrisch had. Eine Kleine Nachtmusik. Oh Jesses! Gudd, dass de
Mozart dood ess.
Daachs droff hann isch e Omweesch gemachd. Do had der Kerl en da
Kaiserschdrooß gefiedeld. Doodenoh vorem Lidl, dieselwe Dsumudung fier
mei Ohre.
Isch hädd ne ombrenge kenne, awwer das derfschde jo ned. Isch hannem
dodefor die Gei abkaaf un en die Saar geschmess.
Am nägschde Morje hadda vorem Bahnhof sei Solokondserd genn. Isch hann
offgenn, dank Oropax.
zurück
Hoffnungsschimmer Karin Jakob
Es war schäbig von
Heinz, ihr zum Geburtstag nur praktische Küchenhelfer zu schenken.
Einmal einen Rührfix, dann einen Gemüsehäcksler, letztes Jahr eine
elektrische Zitruspresse. Und dieses Jahr?
Lotte dachte an das spöttische Grinsen ihrer Gäste.
Ein Traktor hatte mehr Einfühlungsvermögen als Heinz.
Lotte hatte ihm im Schaufenster einen Ring gezeigt und angedeutet, dass
sie ihr Augenlicht dafür hergäbe. Gestern befand sich dieser Ring nicht
mehr in der Auslage. Der Juwelier verriet Lotte augenzwinkernd, ihr Mann
habe ihn erworben.
Freudig erregt nahm Lotte am Geburtstagsmorgen ihr Geschenk entgegen.
„Etwas sperrig“, dachte sie. Da glitt ihr die elektrische
Kartoffelschälmaschine aus der Hand.
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Frühlingsgruß Wilfried Kalitzki
So wie die lärmenden Militärjets am frühen
Morgen einen sonnigen Tagesverlauf verkünden, so bedeuten die ersten
Schneeglöckchen für viele Menschen das Ende der kalten Jahreszeit. Für
mich zeigt der erste Kranichzug aus seinem Winterquartier das nahende
Frühjahr an.
Von Süden her nähert sich laut kreischend ein riesiger Schwarm. Es mögen
ungefähr fünfzig Vögel sein, die geordnet in gleichmäßigen Tempo
voranziehen. Plötzlich lösen sie ohne sichtlichen Grund ihre strenge
Formation auf und kreisen wild schreiend durcheinander über unserem
Haus. Nach wenigen Minuten des Chaos reihen sie sich wieder in ihre
Keilform ein und ziehen nordwärts weiter.
Galt der Gruß vielleicht mir?
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Verdammte Ungewissheit Wilfried Kalitzki
Ich sitze am Brunnen und vertreibe mir die
Zeit mit Warten, neben mir mein Hund. Wir beobachten die Wasserspiele.
Eine ältere Frau kommt auf uns zu und fragt etwas schüchtern:
"Darf ich einen Moment meine Tasche auf der Bank abstellen?"
Ich rutsche ein Stück zur Seite und biete ihr den Platz an. Sie setzt
sich zu mir.
"Darf ich ihren Hund etwas streicheln?", bittet sie mich.
"Ja, natürlich."
Die Frau krault mit viel Gefühl meinen Hund und ich bemerke Tränen in
ihren Augen.
Darauf angesprochen erzählt sie mir, dass seit vier Wochen ihr zehn
Jahre alter Hund spurlos verschwunden ist.
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